Uebersetzungen
ERSTE TOTENWÄCHTERIN: Die Stunde hat nie geschlagen.
ZWEITE TOTENWÄCHTERIN: Wir konnten's nicht hören, hier gibt es keine Uhren. Bald wird Tag sein.
DRITTE TOTENWÄCHTERIN: Nein, der Horizont ist schwarz.
ERSTE TOTENWÄCHTERIN: Möchtet ihr nicht, ihr meine Schwestern, daß wir uns unterhalten und erzählen, was wir waren? Das ist so schön und immer falsch...
ZWEITE TOTENWÄCHTERIN: Nein, lieber nicht davon. Und überhaupt, waren wir denn was?
ERSTE TOTENWÄCHTERIN: Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber schön ist's immer, von der Vergangenheit zu reden. Die Stunden sind dahingeschmolzen und wir saßen schweigend. Ich selber schaute in die Flamme jener Kerze dort. Manchmal zittert sie, manchmal wird sie gelber, manchmal wird sie blaß. Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber wissen wir vielleicht, ihr meine Schwestern, warum die Dinge so sind?...
Fernando PESSOA, O Marinheiro (nach der ital. Übersetzung von Antonio TABUCCHI)
parallalie - 15. Feb, 22:16
Die Schaufensterpuppen von München
Perfektion ist schrecklich, sie kriegt keine Kinder.
Kalt wie Schneeatem sperrt sie den Schoß
Wo die Eiben wie Hydren weh’n,
der Lebensbaum und Lebensbaum
Ihre Monde lösen, Monat für Monat, umsonst.
Der Blutfluß ist der Liebe Fluß,
Das absolute Opfer.
Heißt: keine Götter mehr neben mir,
Ich und du.
So lehnen in ihrem schwef’ligen Liebreiz,
Ihrem Lächeln heut’ abend diese Puppen
in München, Leichenschauhaus zwischen Paris und Rom,
Nackt und kahl in ihren Pelzen,
Orangenlutscher an Silberstielen,
Unerträglich, ohne Geist.
Der Schnee tropft seine Stücke Dunkelheit,
Niemand unterwegs. In den Hotels
werden Hände Türen öffnen und Schuhe
Zum Putzen hinstellen, in denen
Morgen breite Zehen schreiten werden.
O die Häuslichkeit dieser Fenster,
Die Babywäsche, die grünbelaubte Konfiserie,
Die feisten Deutschen schlummern in ihrem bodenlosen Stolz.
Und die eingehängten schwarzen Telefone
Glänzen
Glänzen und Verdauen
Stimmlosigkeit. Der Schnee hat keine Stimme.
(Sylvia PLATH, The Munich Mannequins - dt. von mir)
Das Original:
Perfection is terrible, it cannot have children. / Cold as snow breath, it tamps the womb // Where the yew trees blow like hydras, / The tree of life and tree of life // Unloosing their moons, month after month, to no purpose. / The blood flood is the flood of love, // The absolute sacrifice. / It means: no more idols but me, // Me and you. / So, in their sulphur loveliness, in their smiles // These mannequins lean tonight / In Munich, morgue between Paris and Rome, // Naked and bald in their furs, / Orange lollies on silver sticks, // Intolerable, without mind. / The snow drops its pieces of darkness, // Nobody’s about. In the hotels / Hands will be opening doors and setting // Down shoes for a polish of carbon / Into which broad toes will go tomorrow. // O the domesticity of these windows, / The baby lace, the green-leaved confectionery, // The thick Germans slumbering in their bottomless Stolz. / And the black phones on hooks // Glittering / Glittering and digesting // Voicelessness. The snow has no voice.
parallalie - 9. Feb, 16:45
Hafen von Bombay
(Die Leser werden darauf hingewiesen, daß es sich um etwas ganz Spezielles handelt; wenn Sie es nicht verstehen, haben Sie wahrscheinlich eine chronische Kopferkältung – wohl bekomm’s).
Keats und Chapman wurden von der britischen Regierung mit einer geheimen Mission betraut, die einen Abstecher nach Indien mit sich brachte. Ein Kriegsschiff wartete auf sie in einem britischen Hafen. Als sie im Morgengrauen ihre Unterkünfte verließen, wurden sie eiligen Schritts zum Ort der Einschiffung gebracht. Als sie an Bord sprinten wollten, trafen sie am Dock einen gemeinsamen Freund, einen gewissen Mr Childs, der sich dort zufällig geschäftehalber im Zusammenhang mit seinem Gewerbe als Weinimporteur befand. Rasch wurden oberflächliche Höflichkeiten ausgetauscht. Keats und Chapman hechteten daraufhin an Bord des Kriegsschiffs, das unverzüglich die Anker lichtete. Die Überfahrt nach Indien erfolgte in der kürzesten Zeit, von der jemals gehört wurde, und sobald das Schiff im Hafen von Bombay vor Anker gegangen war, wurden die beiden Freunde in einer Jolle an Land gebracht. Da sie wußten, daß es sich bei ihrer Mission um eine Zeitfrage handelte, hasteten sie von den Docks aus in die angrenzenden Straßen, und als sie um eine Ecke bogen, wessen sonst sollten sie da ansichtig werden ---
Mr Childs? Nein.
Nur einer Menge Inder, ihnen völlig fremd.
„Große Welt,“ bemerkte Keats.
Flann O'BRIEN, The Various Lifes of Keats and Chapman and The Brother (dt. von mir)
parallalie - 4. Dez, 18:07
Finisterre
Das Ende der Welt: die letzten Finger, knöchelig, rheumatisch,
Sich krampfend an Nichts. Schwarze
Mahnende Klippen, und das Meer berstend
Ohne Grund oder mit Nichts auf seiner anderen Seite,
Gebleicht durch die Gesichter der Ertrunkenen.
Jetzt ist es nur düster, ein Haufen Felsen –
Übrig gebliebene Soldaten alter, schmutziger Kriege.
[...]
Sylvia PLATH (dt. von mir)
Finsterfensterfinisterre...
parallalie - 1. Dez, 19:39
Der Mond und die Eibe
Dies ist das Licht der Erinnerung, kalt und planetarisch.
Die Bäume der Erinnerung sind schwarz. Das Licht ist blau.
Die Gräser entladen ihre Leiden auf meine Füße, als wär’ ich Gott,
Stechen meine Fußknöchel und murmeln von ihrer Demut.
Rauchige, geistige Dämpfe bewohnen diesen Ort,
Den eine Reihe von Grabsteinen von meinem Hause trennt.
Ich kann einfach nicht sehen, wo es hingehen soll.
Der Mond ist keine Tür. Ein sich selbst gerechtes Gesicht,
Weiß wie ein Knöchel und schrecklich außer Fassung.
Er zieht das Meer an sich wie ein dunkles Verbrechen; ruh’voll
Mit einem O-Mund voller Verzweiflung. Ich lebe hier.
Zweimal sonntags schrecken die Glocken den Himmel auf –
Acht Riesenzungen behaupten die Wiederauferstehung.
Am Ende dingdongen sie nüchtern ihre Namen aus.
Die Eibe zeigt hoch hinauf. Ihre Gestalt ist gotisch und schaurig.
Die Augen schauen hinter ihr auf und finden den Mond.
Luna, meine Mutter. Sie ist nicht wie Maria so sanft.
Ihre blauen Gewänder lassen frei kleine Fledermäuse und Eulen.
Wie sehr würde ich glauben an Zärtlichkeit –
Das Antlitz des Abbilds, durch Kerzen veredelt,
Sich zu mir – mir ganz besonders – beugend, die milden Augen.
Lange bin ich gefallen. Wolken blühen
Blau und mystisch über der Sterne Angesicht.
In der Kirche werden alle Heiligen fahlblau sein,
Gleiten auf ihren zarten Füßen über kalte Bänke,
Steif ihre Hände und Gesichter vor Heiligkeit.
Der Mond sieht nichts davon. Leer ist er und wüst.
Und die Botschaft der Eibe ist Schwärze – Schwärze und Schweigen.
Sylvia PLATH, The Moon and the Yew Tree (dt. von mir)
parallalie - 27. Nov, 19:41
M'illumino
d’immenso
(UNGARETTI)
Ich erleuchte mich
durch Unermeßliches
(übersetzt von Ingeborg BACHMANN)
oder:
Ich erstrahle
durch Unermeßliches
Aufstrahlt mich
Unendliches
Mir wird so licht
vom Grenzenlosen
Ich leuchte auf
von Ungeheurem
Ungeheures
macht mich licht
Mich läßt erstrahlen
Unermeßlichkeit
[SPRICHWORTE (1966-1969) /// EINS (Rom, im Bett, dösend, in der nacht vom 27. auf den 28. juni 1966) // man beginnt zu singen / und man singt, um zu enden // ZWEI // zum singen ist geboren, / wer vom lieben stirbt // zum lieben ist geboren, / wer vom singen stirbt // DREI // wer zum singen geboren, / singt auch im sterben // VIER // wer zum lieben geboren, / wird vom lieben sterben // FÜNF // bei der geburt weißt du nichts / im leben lernst du wenig / im sterben aber wird dir scheinen / die einzige lehre / sei diejenige, die sich läutert / wenn sie in der liebe sich absondert // SECHS //]
wir könnten fortfahren
(UNGARETTI)
parallalie - 18. Nov, 22:23
o sichel des abnehmenden mondes : dein glanz über öd-leeren wassern : o silbersichel, welch ein traumbote : wallet hienieden in deinem milden schein! : kurze atemzüge der blätter : seufzer der blumen aus dem hain : dem meere zugehaucht - nicht singen nicht schrei : nicht klang durchquert das schweigen so weit : von liebe gedrückt und freudenschwer : entschlummert der lebenden volk... : o abnehmende sichel, welch ein traumbote : wallet hienieden in deinem milden schein!
(O falce di luna calante / che brilli su l'acque deserte, / o falce d'argento, qual mèsse di sogni / ondeggia al tuo mite chiarore qua giù! / Aneliti brevi di foglie / sospiri di fiori dal bosco / esalanao al mare: non canto non grido / non suono pe 'l vasto silenzio va. / Oppresso d'amor, di piacere, / il popol de' vivi s'addorme... / O falce calante, qual mèsse di sogni / ondeggia al tuo mite chiarore qua giù!)
nach Gabriele D'ANNUNZIO, Canto Novo, VII (dt. von Helmut Schulze)
parallalie - 7. Sep, 14:55
Therapie gegen Kopfschmerzen und Zauber der Unterwasserwelt
Sich in einem Waschbottich spiegeln und warten, bis das Wasser den Kopf auf kleinen Wellen wiegt - dann das eigene Abbild einige Minuten lang verrühren, daraufhin den Strudel anhalten und warten, bis der Kopf sich im Wasser wieder zusammensetzt - ihn fortnehmen und das Wasser ausschütten, damit es keinen gleichen mehr bilden kann, da er sonst Gefahr liefe, die Aufmerksamkeit des Henkers auf sich zu ziehen.
(TERAPIA CONTRO IL MAL DI TESTA E FASCINO DEL MONDO SUBACQUEO
Specchiarsi in una tinozza, lasciando che l'acqua porti la testa sulle piccole onde - poi mescolare la propria immagine per alcuni minuti, quindi arrestare il gorgo e lasciare che la testa si ricomponga nell'acqua stessa - distoglierla e gettare l'acqua affinché non ne riformi una identica, con il rischio di venire additata al boia.)
Valentino ZEICHEN (deutsch von Helmut Schulze)
parallalie - 31. Aug, 16:45
Aga magéra difúra natun gua mesciún
Sánit guggérnis soe-wáli trussán garigúr
Gùnga bandúra kuttávol jeris-ni gillára.
Lávi girréscen suttérer lunabinitúr
Guesc ittanóben katir ma ernáuba gadún
Vára jesckilla sittáranar gund misagúr,
Táher chibill garanóbeven lixta mahára
Gaj musasciár guen divrés kóes jenabinitúr
Sòe guadrapútmijen lòeb sierrakár masasciúsc
Sámm-jab dovár-jab miguélcia gassúta mihúsc
Sciú munu lússutjunáscru gurúlka varúsc.
Aus der Erzählung "Dialogo dei massimi sistemi" (1937) von Tommaso Landolfi; der Protagonist Herr Y improvisiert daselbst eine Übersetzung:
Auch weinte vor Glück das müde Gesicht,
Während die Frau mir aus ihrem Leben erzählte
Und mich ihrer brüderlichen Zuneigung versicherte.
Und die Pinien und die Lärchen der reizend gekrümmten Allee
Vor dem Hintergrund des rosenwarmen Sonnenuntergangs
Und eines die Nationalflagge schwingenden Häuschens
Schienen das durchfurchte Antlitz einer Frau, die nicht merkte,
Eine blanke Nase zu haben. Und jenes Zucken,
Für mich noch lange Zeit spöttisch und beißend,
Spürt' ich hüpfen und sich winden wie einen hanswurstigen Fisch
Tief unten in der Finsternis meiner Seele.
(Deutsch von Helmut Schulze)
parallalie - 25. Aug, 20:43